Sonntag, 2. November 2008

Spiel mit der Sprache

Gestern Wittgensteins Spätwerk, seine sogenannten "Philosophischen Untersuchungen" hinter mir gelassen. Viele halten diesen Mr Linguistic Turn tatsächlich für einen Philosophen, aber wer einerseits behauptet, alle Probleme sind Probleme der Sprache und andererseits glaubt, dass dabei die Fragen des Lebens noch nicht einmal berührt werden, hat natürlich ein Problem ganz eigener Natur. Statt der Fliege den Weg aus dem Fliegenglas zu zeigen, scheint es letztlich darum zu gehen, dem Moskito aus der Urzeit zu erklären, dass er für ewig eingeschlossen bleibt in seinem Bernstein. Das ist eloquenter Skeptizismus.


Die Theorie des Sprachspiels mag durchaus Substanz haben, die Bedeutung der Sprache ist lediglich der Gebrauch der Sprache, aber als philosophischer Standpunkt bleiben diese teilweise recht verworrenen Aphorismen etwas schwach, "Philosophische Spiele" wäre vielleicht ein passenderer Titel gewesen. Im Übrigen sollte die Sprache als Instrument und nichthintergehbares Medium durchaus reflektiert und bereinigt werden, aber eine Brille sollte man nicht nur putzen, sondern auch mal durchschauen.

Dienstag, 29. Juli 2008

Die Logik des Mythos

Euripides im alten Griechenland besucht. Seine "Medea" ist wohl nicht mehr die mythologischen "Große Mutter" bzw. "Große Göttin", die sie es noch zu Homers Zeiten war. Aus der weisen Frau mit kultisch-ritueller Bedeutung, ist eine rachsüchtige Giftmischerin geworden, die nicht davor zurückschreckt, ihre eigenen Kinder umzubringen.


Die "Arbeit am Mythos" (Hans Blumenberg) ist ja bis heute nicht zu Ende, noch immer schreiben Autoren der Gegenwart über Medea, wie etwa Christa Wolf. Das ist vielleicht das schöne an solcherart Literatur, die Geschichten werden immerzu umgeschrieben und weitererzählt.

Mittwoch, 9. Juli 2008

Römische Elegien: Die Fünfte

Froh empfind ich mich nun auf klassischem Boden begeistert,
Vor- und Mitwelt spricht lauter und reizender mir.
Hier befolg ich den Rat, durchblättre die Werke der Alten
Mit geschäftiger Hand, täglich mit neuem Genuß.
Aber die Nächte hindurch hält Amor mich anders beschäftigt;
Werd ich auch halb nur gelehrt, bin ich doch doppelt beglückt.
Und belehr ich mich nicht, indem ich des lieblichen Busens
Formen spähe, die Hand leite die Hüften hinab?
Dann versteh ich den Marmor erst recht: ich denk und vergleiche,
Sehe mit fühlendem Aug, fühle mit sehender Hand.
Raubt die Liebste denn gleich mir einige Stunden des Tages,
Gibt sie Stunden der Nacht mir zur Entschädigung hin.
Wird doch nicht immer geküßt, es wird vernünftig gesprochen,
Überfällt sie der Schlaf, lieg ich und denke mir viel.
Oftmals hab ich auch schon in ihren Armen gedichtet
Und des Hexameters Maß leise mit fingernder Hand
Ihr auf den Rücken gezählt. Sie atmet in lieblichem Schlummer,
Und es durchglühet ihr Hauch mir bis ins Tiefste die Brust.
Amor schüret die Lamp' indes und gedenket der Zeiten,
Da er den nämlichen Dienst seinen Triumvirn getan.

Donnerstag, 3. Juli 2008

Die tiefe Langeweile

Die vielleicht schönste Einführung in das Philosophieren ist Martin Heideggers 'heimliches Hauptwerk' (Safranski): "Grundbegriffe der Metaphysik. Welt - Endlicheit - Einsamkeit". Diese Vorlesungen aus den Jahren 1929/1930, also nach "Sein und Zeit", setzen beim Ursprung des philosophischen Denkens ein, der gar kein Denken ist, sondern eine Stimmung, eine Ergriffenheit, zu der der Einzelne erwachen muß, wenn er wirklich Philosophieren will. So ist das eben für Existenzialisten: Man philosophiert nicht mit dem Kopf, sondern mit dem Leben.


Um zu einer solchen Stimmung zu gelagen, muß der Mensch sich selbst durch sein 'inbegriffliches Fragen' in Frage stellen. Ein Weg führt dabei über die Langeweile, die Heidegger [Bild] in über hundert Seiten in drei Grundformen analysiert und dabei seinem Gegenstand in performativer Widersprüchlichkeit gerecht wird. Die tiefe Langeweile ist eigentlich ein Abgrund.

Dienstag, 1. Juli 2008

Klopstock: Die deutsche Bibel (1784)

Heiliger Luther, bitte für die Armen,
Denen Geistes Beruf nicht scholl, und die doch
Nachdolmetschen, daß sie zur Selbsterkentniß
Endlich genesen!

Weder die Sitte, noch der Sprache Weise
Kennen sie, und es ist der reinen Keuschheit
Ihnen Märchen! was sich erhebt, was Kraft hat,
Edleres, Thorheit!

Dunkel auf immer ihnen jener Gipfel,
Den du muthig erstiegst, und dort des Vater-
Landes Sprache bildetest, zu der Engel
Sprach', und der Menschen.

Zeiten entflohn: allein die umgeschafne
Blieb; und diese Gestalt wird nie sich wandeln!
Lächeln wird, wie wir, sie dereinst der Enkel,
Ernst sie, wie wir, sehn.

Heiliger Luther, bitte für die Armen,
Daß ihr stammelnd Gered' ihr Ohr vernehme,
Und sie dastehn, Thränen der Reu im Blick, die
Hand auf dem Munde!



Montag, 30. Juni 2008

Genies unter sich

Wieder mit Goethe unterwegs. Die Begegnung mit Herder [Bild]. Der Geniekult bricht los und übernimmt nicht nur für Goethe, sondern auch für die folgende Geistesgeschichte eine ausnehmende Rolle. Noch für die Epoche der Romantik wird Herder als Ahnherr gehandelt, wie zuletzt in Rüdiger Safranskis vorzüglicher Monographie "Romantik. Eine deutsche Affäre".


Mittwoch, 25. Juni 2008

Mit den eigenen Waffen

Der große Kritiker der Postmoderne schreibt einen postmodernen Roman, der durch die strenge Einlösung einer postmodernen Poetik, insbesondere durch die Verweigerung einer literarischen Schmucksprache und durch die obligate Selbstreflexivität, zugleich eine wunderbare Parodie des postmodernen Romans geworden ist.

Einige Kritiker attestieren Ken Wilber [Bild] literarische Talentlosigkeit und in der Tat glänzt der Stil durch Imitation und Überbietung eines "schlechten Stils". Die Parodie "Boomeritis" ist auf eine sehr unterhaltsame und intelligente Weise gelungen, ob Wilber als Literat tatsächlich Talent besitzt, muss allerdings offen bleiben. Es läßt sich hier in beide Richtungen argumentieren: Nein, denn er hat einen schlechten Stil, oder: Ja, denn er beherrscht den schlechten Stil wie kein anderer. Wilber selbst bemerkt dazu lapidar: "Wir werden es wohl nie erfahren".

Dienstag, 24. Juni 2008

Die Fünf-Sterne-Liste

Romane:
  • Rafael Yglesias "Doktor Nerudas Therapie gegen das Böse"
  • Umberto Eco "Das Foucaultsche Pendel"
  • Rainald Goetz "Abfall für Alle"
Biographien:
  • Reiner Stach "Kafka. Die Jahre der Entscheidung"
  • Rüdiger Safranski "Nietzsche. Biographie seines Denkens"
  • Manfred Kühn "Kant. Eine Biographie"
Sachbücher:
  • Rüdiger Safranski "Romantik. Eine deutsche Affäre"
  • Ken Wilber "Eros, Kosmos, Logos"
  • Peter Watson "Das Lächeln der Medusa"

Montag, 23. Juni 2008

Kartographie des Wissens

In der Geschichte wurde ja immer wieder einmal der Versuch unternommen, das gesamte Wissen der Menschheit - zumindest das in Büchern niedergeschriebene - zu sammeln und in seiner Essenz darzustellen. Selbst nachdem man sich am Ende des 19. Jahrhunderts vom Typus des Universalgelehrten und von den Systemphilosophien abgewendet hat, gibt es heute im 21. Jahrhundert noch immer derartige Versuche. Der Amerikaner Ken Wilber ist auf diesem Gebiet wohl die herausragenste Figur unserer Tage. In seinen Werken "Das Spektrum des Bewußtseins"(1977), "Eros, Kosmos, Logs" (1995), "Integrale Psychologie" (2000) oder "Integrale Spiritualität" (2006) entwirft Wilber eine Art Landkarte des menschlichen Wissens und erreicht trotz der Berücksichtigung eines Methodenpluralismus' ein zusammenhängendes Bild. Eine typische Große Erzählung, wie sie seit der Postmoderne verschrieen ist.


Hinzu kommt, daß Wilber nicht nur die westliche Wissenschaft, sondern auch die östlichen Weisheitslehren - etwa den Buddhismus, Daoismus oder Hinduismus - in seine Landkarte integriert und damit auf pauschale Kritik oder Ignoranz stößt. In Europa wird Wilber nur in New Age-Kreisen rezipiert, die widerum auf seine polemischen Kritiken an ihrer oftmals seichten Esoterik nicht gerade begeistert reagieren. Wilber wird vielleicht erst noch entdeckt werden.

Sonntag, 22. Juni 2008

Hölderlin: An die jungen Dichter (1826)

Liebe Brüder! es reift unsere Kunst vielleicht
Da, wie ein Jüngling, sie lange genug gegärt,
Bald zur Stille der Schönheit;
Seid nur fromm, wie der Grieche war!

Liebt die Götter und denkt freundlich der Sterblichen!
Haßt den Rausch, wie den Frost! lehrt und beschreibt nichts!
Wenn der Meister euch ängstigt,
Fragt die große Natur um Rat.


Montag, 16. Juni 2008

Das Wesen der Philosophie

Ahh! Solche tiefschürfenden Titel, wie dieser hier von Wilhelm Dilthey [Bild], gab es nur im gelehrten 19., allenfalls am Anfang des 20. Jahrhunderts. "Das Wesen der Philosophie" (1924) grenzt Dilthey ab von der Kunst und der Literatur und selbst von der Wissenschaft. Es sind herrliche Zitate zu finden und für einen Hermeneutiker geht es hier doch reichlich systematisch zu. Schön jedenfalls, daß auch der Literatur ihr eigenes Wesen zugestanden wird ...

Freitag, 13. Juni 2008

Nietzsche: An Goethe (1882)

Das Unvergängliche
Ist nur dein Gleichniss!
Gott der Verfängliche
Ist Dichter-Erschleichniss ...

Welt-Rad, das rollende,
Streift Ziel auf Ziel:
Noth – nennt’s der Grollende,
Der Narr nennt’s – Spiel ...

Welt-Spiel, das herrische,
Mischt Sein und Schein: –
Das Ewig-Närrische
Mischt uns – hinein!...



Mittwoch, 11. Juni 2008

Der alte Mann und das Mädchen

Vor einigen Tagen Martin Walsers "Ein liebender Mann" (2008) ausgelesen. Ein Goethe-Roman. Erstaunlich unterhaltsames Buch mit lakonischen Weisheiten und einer um Klassizität bemühten Sprache, die in dieser Geschichte durchaus am Platze ist. Es gibt wohl nicht mehr viele gute Gründe, ein weiteres Buch über Goethe zu veröffentlichen, aber einem der wenigen verdankt sich dieses Buch: Mimesis.


Der 74jährige Goethe verliebt sich in die 19 Jahre alte Ulrike von Levetzow [Bild], soviel zum historischen Ausgangspunkt. Die Charakterisierung des jungen Mädchens scheint dagegen literarisch etwas überhöht geraten zu sein, ein solches frühreifes und eloquentes Frauenzimmer, wie Walser es vorstellt, ist doch eher das Produkt eines kühnen Nachahmers unseres Klassikers, der am Ende das Ideal in der Literatur erschaffen will, weil es im Leben nicht zu haben ist. Das Thema Alte Männer und Junge Frauen ist ja durchaus präsent in den letzten Jahren - man denke etwa an Philip Roths thematische Redundanz - und tatsächlich scheint der Roman ein geeignetes Medium zu sein, um das, was nicht sein darf, dennoch sein zu lassen.

Dienstag, 10. Juni 2008

Bibliothek bei Nacht

Es gibt bekanntlich ein paar Klischees über Bibliotheken, insbesondere über die Unscheinbarkeit ihrer Angestellten. Alberto Manguel - der ehemalige Vorleser des erblindeten Jorges Luis Borges [Bild] -, der mit seiner "Geschichte des Lesens" (1998) längst berühmt geworden ist, hat auch eine ausgesprochen lesbare Geschichte der Bibliothek geschrieben, wobei Geschichte bei Manguel niemals chronologisch zu verstehen, sondern eher autobiographisch - als Zeugnis eines Enthusiasten. Statt dem Klischee der Unscheinbarkeit wird hier gewissermaßen die Erotik der Bibliothek besungen, leise und melancholisch und mitunter mit einem Pathos für das es Nacht sein muß.

In "Die Bibliothek bei Nacht" (2006) findet sich auch jene labyrinthische Logik des Hypertextes, die Manguel so formuliert:
Manchmal träume ich von einer gänzlich namenlosen Bibliothek, in der die Bücher weder Titel noch Autor kennen, sondern zu einem kontinuierlichen Erzählstrom verschmelzen, in dem alle Genres, alle Stilrichtungen und alle Geschichten einfließen und wo alle Protagonisten und Orte unbenannt sind, ein Strom, in dem ich an jedem beliebigen Punkt eintauchen kann.

Dienstag, 20. Mai 2008

Goethe: Weltliteratur (1827)

Wie David königlich zur Harfe sang,
Der Winzerin Lied am Throne lieblich klang,
Des Persers Bulbul Rosenbusch umbangt,
Und Schlangenhaut als Wildengürtel prangt,
Von Pol zu Pol Gesänge sich ernenn –
Ein Sphärentanz harmonisch im Getümmel –
Laßt alle Völker unter gleichem Himmel
Sich gleicher Habe wohlgemuth erfreun!


Montag, 19. Mai 2008

Die Vernetzung der Welt

Jochen Hörisch schildert in seiner Mediengeschichte die Anfänge der Weltverkabelung, bereits 1866 wurde eine Telegraphenleitung durch den Antlantik gelegt. In einer Fußnote ist sogar von dem Victorian Internet die Rede. Einige Zeitgenossen haben die neuen technischen Möglichkeiten deutlich als das erkannt, was sie heute noch sind: Ent-fernungen. Das Zeitalter der Raumkrise wäre damit schon mehr als 100 Jahre alt.

Das Schöne an dieser hervorragend geschriebenen "Geschichte der Medien" (2001) ist, dass sie von einem Literaturwissenschaftler verfasst wurde. Hörisch liest die Klassiker gewissermaßen gegen den Strich und betrachtet Aischylos, Charles Dickens oder Thomas Mann als medienhistorische Lektüre.

Sonntag, 18. Mai 2008

Raum-Zeit-Reise

Heute wieder mit Goethe in Leipzig. Bekanntschaft mit dem alten Johann Christoph Gottsched [Bild], der die Literaturtheorie vor der Goethezeit prägte und dem 17jährigen Johann Wolfgang nicht mehr allzuviel zu sagen hat. Interessante Begegnungen in der Bücherstadt Leipzig, damals im Jahre 1766 ...

Samstag, 17. Mai 2008

Rilke: Sonett 1b

Atmen, du unsichtbares Gedicht!
Immerfort um das eigne
Sein rein eingetauschter Weltraum. Gegengewicht,
in dem ich mich rhythmisch ereigne.

Einzige Welle, deren
allmähliches Meer ich bin;
sparsamstes du von allen möglichen Meeren,
-Raumgewinn.

Wieviele von diesen Stellen der Räume waren
schon
innen in mir. Manche Winde
sind wie mein Sohn.

Erkennst du mich, Luft, du, voll noch einst meiniger
Orte?
Du, einmal glatte Rinde,
Rundung und Blatt meiner Worte.



Wahrheit und Dichtung

Der alte Goethe [Bild, 1828] schreibt ganz richtig, dass die wahre Literatur erstunken und erlogen sein muss. Seine Autobiographie "Dichtung und Wahrheit" (1811-1831) ist eben nicht einfach Chronik seines Lebens - abgesehen davon, dass diese vierbändige Geschichte nur bis zu seinem 26. Lebensjahr erzählt wird -, sondern das Abbild eines Abbildes:
Denn das scheint die Hauptaufgabe der Biographie zu sein, den Menschen in seinen Zeitverhältnissen darzustellen und zu zeigen, inwiefern ihm das Ganze widerstrebt, inwiefern es ihn begünstigt, wie Welt- und Menschenansicht daraus gebildet und wie er sie, wenn er Künstler, Dichter, Schriftsteller ist, wieder nach außen abgespiegelt.
Die Frage bleibt offen, ob das auch für den Umkehrschluss gilt, ob jede Dichtung, und sei sie noch so phantastisch, die ganze Wahrheit enthält.

Sappho: Fragmente (um 600 v. Chr.)

Runzelig gemacht hat die einst zarte Haut mir das Alter schon.
Weiß geworden sind die Haare aus schwarzen,
das Herz ist mir schwer gemacht worden,
die Knie tragen nicht, die doch einst leicht waren zu tanzen.
Ich seufze oft. Aber was kann ich machen?
Alterslos, Mensch seiend, kann man nicht werden.



Freitag, 16. Mai 2008

Wievel Lesezeichen braucht der Mensch?

Das Gute an Büchern ist, dass sie eine ganze Welt enthalten, die man in einem Augenblick betreten oder wieder verlassen kann. Eine Art literarisches Beamen. Das macht es möglich, viele dieser Welten parallel zu bereisen und so habe ich meine Lesezeichen an den verschiedensten Orten verteilt. Zur Zeit stecken sie in Goethes "Wahrheit und Dichtung" (1811-1831) [Bild] und in Walter Benjamins "Ursprung des deutschen Trauerspiel" (1925), eines befindet sich in Jochen Hörischs "Geschichte der Medien" (2001), ein anderes die der Biographie "Johann Sebastien Bach" von Christian Wolff, ein weiteres in Wittgensteins "Philosophischen Untersuchungen" (1953) und diese Liste ist keineswegs vollständig.

Vielleicht liegt darin tatsächlich eine Oberflächlichkeit, vielleicht ist es aber auch nur die zeitgenössische Art zu Denken. Die Medialität von von Sprache und Literatur soll ja angeblich unsere Wahrnehmung konditionieren, beispielsweise soll die Linearität der Alphabetschrift, im Gegensatz zum zyklischen Ritual, einen linearen Modus des Denkens statt eines zyklischen etabliert haben. Heute ist dagegen viel die Rede von der Hypertextualität und einer netzartigen Struktur des Denkens. Mit anderen Worten, vielleicht braucht man heutzutage einfach eine ganze Kollektion an Lesezeichen.

Logbuch eines Reisenden

Weiter geht's. Der Anfang der Reise liegt ja immer schon in ferner Vergangenheit, also beginnen wir einfach hier an dieser Stelle mit einigen Notizen. Über die Kunst des Anfangens gibt es - wie im Grunde wohl über jedes andere Thema - bereits einiges zu lesen, so etwa in Peter Sloterdijks Buch "Zur Welt kommen - Zur Sprache kommen" (1988). In seinen Vorlesungen über die Poetik des Anfangens liest man folgende Warnung:
Ein Buch ohne Anfang und Ende ist für menschlichen Besitz ungeeignet, der Verstand gerät in Gefahr, sich ans Monströse zu gewöhnen, und blättert einer zu viel in dem maßlosen Buch, so riskiert er selbst zum Monstrum zu werden.
Nun sind wir aber durchaus im Besitz eines solchen Textes, der weder Anfang noch Ende hat. Es handelt sich um den endlos verwobenen Hypertext, der keinesweg im Zeitalter des Internets begonnen wurde zu weben, sondern zu einer Zeit, in der die Literatur selbst erfunden wurde, spätestens seitdem die frühen Dichter sich auf noch frühere Dichtungen bezogen, indem sie gewissermaßen einen literarischen Link setzten.

Genau so wie sich Sloterdijk auf die Geschichte "Die Bibliothek von Babel" (1941) von Jorge Luis Borges bezieht, der sich selbst wiederum auf den Mythos der babylonischen Sprachverwirrung - sprich auf das "Buch der Bücher" (600 v. Chr. bis 120 n. Chr.) -, bezieht, deren anonyme Autoren sich letztendlich auf noch ältere Mythen beziehen. Die vermeintlich älteste Geschichte der Welt, bekannt unter dem Namen "Gilgamesch-Epos" (2100-1800 v. Chr.), reicht in die Zeit zurück als man noch Zeichen in Tontafeln einritzte. Aber auch dieses Tontafel-Epos steht nicht am Anfang. In der Literatur gibt es keinen Anfang. Der Leser ist immer schon mittendrin in der Gutenberg-Galaxis, die laut Marshall McLuhan im letzten Jahrhundert ihr Ende gefunden haben soll. In dieser Galaxie werden aber durchaus neue Sterne geboren und die Gefahr in ihr zu einem Monster zu werden ist keineswegs vorrüber.